Interview mit Romila Thapar: „Die Geschichte wird zum Schlachtfeld der Politik”

Auffliegende Tauben vor einer Moschee in Delhi, Indien
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In Indien leben 160 Millionen Muslime. Die Geschichtsschreibung der Hindu-Nationalisten erklärt sie zur Bedrohung

Die 85-jährige Historikerin Romila Thapar gehört zu den bedeutendsten indischen Intellektuellen. 2008 erhielt sie in den Vereinigten Staaten den renommierten Kluge-Preis der Library of Congress für ihr Lebenswerk. Seit Jahren kämpft sie in Indien gegen die Geschichtsumschreibung der Nationalisten und fordert nun auch Intellektuelle auf, den öffentlichen Raum wiederzugewinnen.

Heinrich-Böll-Stiftung: Der britische Historiker Eric J. Hobsbawn soll einmal gesagt haben: „Historiker sind für Nationalisten, was Opiumbauern für Heroinabhängige sind.” Ist der grassierende Nationalismus also ein Segen für ihre Wissenschaft?

Romila Thapar: Er ist für uns als Historiker vor allem eine Gefahr. Denn Nationalisten und Populisten missbrauchen die Vergangenheit für ihre eigenen politischen Ziele. Sie verbiegen die Geschichte eines Landes so lange, bis sie mit der Zeit untrennbar mit einer bestimmten Religion, einer Sprache oder einer Ethnie verbunden scheint.

Indien wird seit 2014 von der hindu-nationalistischen Partei Bharatiya Janata Party (BJP) regiert. Welche Geschichte braucht die Partei für ihre Politik?

 

Romila Thapar

Sie will gemeinsam mit der radikal-hinduistischen Freiwilligenorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) aus Indien einen Hindu-Staat formen. In ihrer Ideologie, der sogenannten Hindutva, wird Religion als nationalistische Identität missbraucht. Menschen mit hinduistischen Glauben sollen mehr Rechte als Bürgerinnen und Bürger anderer Konfessionen genießen.

Damit dieses Gedankengut fruchtet, behaupten Nationalisten, dass die Arier, als Begründer des Hinduismus, schon immer in Indien ansässig waren. Daraus leiten sie ab, dass Hindus ein Vorrecht haben, in Indien zu leben. Hier werden also geschichtliche Tatsachen verdreht, denn das widerspricht allen historischen Fakten, nach denen die Arier, und damit auch ihr Glaube, selbst erst aus Zentralasien nach Indien kamen.

Im Umkehrschluss schließen die Nationalisten all jene aus, die keine Hindus sind. Dabei ist Indien ein Vielvölkerstaat und mit mehr als 160 Millionen Muslimen das drittgrößte muslimische Land der Welt.

In dieser Ideologie werden Minderheiten nicht nur ausgegrenzt, sie werden als Bedrohung für die Nation dargestellt. In Indien heißt es heute, Muslime hätten jahrhundertelang Hindus unterdrückt. Nun sei die Zeit reif, sich zu „rächen“. Ganz gleich, wie oft wir als Historiker belegen, dass es auch diese Unterdrückung nie gab, fangen die Menschen an, diese Erzählungen zu glauben. Anstatt Gegenstand wissenschaftlicher Debatten zu sein, wird die Geschichte so zum Schlachtfeld der Politik.

In der Gesellschaft schürt das Feindschaften und hat fatale Folgen: 2015 wurde beispielsweise der Muslim Muhammad Akhlaq von Dorfbewohnern getötet, nachdem das Gerücht aufkam, er habe ein Rind geschlachtet und gegessen. Dies ist die blutige Folge einer überzogenen Politik zum Schutz der Kuh, die im Hinduismus heilig ist.

Die Partei BJP rund um den Premierminister Narendra Modi erfährt jedoch ungebrochen eine breite Zustimmung. Wie erklären Sie diese Dominanz?

Indiens nationalistische Bewegungen sind seit vielen Jahrzehnten aktiv und der RSS verfügt bis weit ins Landesinnere hinein über zahlreiche Zweigstellen. Dort unterrichten sie Kinder und bringen ihnen früh ihre Version der indischen Geschichte bei, während die politische Linke keine Gegenstrategie findet.

In Ihrem Buch „The Public Intellectual” schreiben Sie, dass die politische Linke mit der Einführung neoliberaler Reformen ihre Strahlkraft verlor. Wie hängt das für Sie zusammen?

Als Indien seine Märkte Anfang der 1990er Jahre öffnete, um einen neoliberalen Weg einzuschlagen, verengte sich die politische Debatte. Zuvor suchten linksliberale Intellektuelle eine Antwort auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Die Antwort schien mit dem Neoliberalismus gegeben und sie verfielen in Fatalismus. Diesen Umstand wussten Populisten und Nationalisten für sich zu nutzen. Heute verknüpfen sie ihre strenge religiöse Ideologie mit einem Versprechen auf Wachstum und Fortschritt.

Damit gewann die BJP im März dieses Jahres auch die Regionalwahlen im größtem Bundesstaat Uttar Pradesh. Kurze Zeit später wurde Yogi Adityanath, ein militanter, islamophober Hindu-Priester, von der Partei zum Ministerpräsidenten ernannt. Nun führt er einen Bundesstaat mit mehr als 200 Millionen Einwohnern.

Dieser Wahlsieg steht beispielhaft für die Strategie von Nationalisten und Populisten, die auch in anderen Teilen der Welt zu beobachten ist: Die Regierung redet von wirtschaftlichem Fortschritt, sie behauptet, ihr gehe es um Wachstum, um Smart-Cities, um den Ausbau der Infrastruktur für die Industrie. Sie sagt, sie wolle Hochgeschwindigkeitszüge bauen und das, obwohl sich in Indien auf den Bahnstrecken immer noch ein Unfall an den nächsten reiht. Mit diesen vordergründigen politischen Projekten schüren sie den Stolz auf das Land, sie wollen damit zeigen, dass Indien wieder wer ist.

Doch unterschwellig nutzen sie den geweckten Nationalstolz für ihr eigentliches Anliegen, einen religiös-nationalistischen Staat aufzubauen. Und diejenigen, die von diesem wirtschaftlichen Fortschritt dann nicht profitieren, finden Trost und schöpfen Kraft aus der hindu-nationalistischen Erzählung der Regierung.

Wie ist diese Strategie zu durchbrechen und welche Rolle spielen dabei für Sie Intellektuelle?

Es bringt nichts, wenn Intellektuelle zahllose Pamphlete und Artikel für ein sowieso schon gebildetes, liberales Publikum schreiben. In Zeiten wie diesen müssen wir die Öffentlichkeit suchen und unterschiedliche Erklärungen für komplexe Zusammenhänge anbieten. Es geht darum, Menschen zum Nachdenken anzuregen.

Ist das nicht selbstverständlich?

Was sie als Selbstverständlichkeit bezeichnen endet dort, wo Intellektuelle für ihre Arbeit mit ihrem Leben bezahlen. Der indische Intellektuelle M.M. Kalburgi wurde 2015 ermordet, weil er sich um eine sachliche Auseinandersetzung mit Religion bemühte. Seitdem ergreifen nur noch wenige das Wort, viele haben Angst um ihre Familien oder um ihre Jobs. Deshalb müssen Politiker heute nur wenig Widerstand fürchten, wenn sie die indische Geschichte umschreiben.

Romila Thapar, geb. 1931, ist eine indische Historikerin, Professorin an der Jawaharlal Nehru Universität in Dehli und Autorin mehrerer Bücher, einschließlich des beliebten Bandes "A History of India". Thapar befasst sich mit antiker indischer Geschichte und Sozialgeschichte im frühen Indien.  2002 protestierte sie mit anderen indischen Historikern gegen Änderungen in indischen Schulbüchern. Thapar bezog in der Vergangenheit immer wieder klar Stellung gegen hindu-nationalistische Strömungen in der indischen Gesellschaft.

Das Interview führten Fabian Heppe und Marius Mühlhausen.